xplore Berlin 2016: Bericht von Saleem

 

Meine Tage auf der xplore 2016

von Saleem

Ein paar Tage sind es nun her, dass ich auf dem Gelände der Alten Börse Marzahn in eine andere Welt eintauchte, die sich einerseits so selbstverständlich und natürlich anfühlte und die mir andererseits heute so tabulos und vollkommen weltfremd vorkommt, dass ich ernsthaft nicht weiß, mit wem ich eigentlich offen darüber sprechen kann, außer denen, die selbst dabei waren. Und was kann, was will, was darf ich darüber berichten? Meine Irritation finde ich umso erstaunlicher, als ich seit vielen Jahren in der Welt des Tantra unterwegs bin, oft darüber geschrieben habe und den Spagat zwischen verschiedenen Welten bestens kenne … so dachte ich zumindest.

Die Welt, über die ich hier schreibe, ist die Welt der „xplore Berlin“, die im Juli 2016 zum mehr als 10. Mal ihre Pforten für mutige Forschungsreisende in Sachen Sex, Kunst und Politik öffnete. Das weitläufige Gelände mit unterschiedlichen Gebäuden besitzt den Charme heruntergekommener Fabriklandschaften und freakiger Hausbesetzerkultur, doch schon beim Eintreffen strahlen Menschen unterschiedlichster Altersgruppen und sexueller Identitäten eine gelassene Heiterkeit und Vorfreude aus, von der ich mich gerne anstecken lasse. In den kommenden drei Tagen werden mehr als 50 verschiedene Miniworkshops stattfinden, davon jeweils drei parallel und manche mehrmals. Daneben gibt es Räume und Freiflächen für Massageaustausch, Körperarbeit, Bondage, sexuelle Erforschung und Begegnung, Rollenspiel und Ritual, unterstützt durch elektronische und akustische Klangerfahrungen. Als besonderes Projekt steht diesmal ein Guru-Supermarkt auf dem Programm zur spielerischen Auseinandersetzung mit Indoktrination, Mindfuck und Erleuchtung bis hin zu Hierarchie und Abhängigkeit. Als Sonderveranstaltung läuft ein Symposium zum Thema „Lebendige Körperlichkeit – queere, sadomasochistische und ökosexuelle Perspektiven“, das auch separat besucht werden kann, „hands off“ sozusagen.

Ich besuche dieses Festival nicht allein, wir sind zu fünft verabredet und werden uns in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder finden und austauschen. Darauf hatte ich mich sehr gefreut, allerdings unterschätzt, wie wichtig das für mich werden würde. Voller Tatendrang stürze ich mich in einen Workshop nach dem anderen, will so wenig wie möglich verpassen und natürlich auch alle besonderen Events und Spaces kennenlernen. Dass mir das schon bald zu viel werden könnte, ahne ich zu Beginn noch nicht. Integration ist wichtig, das war mir klar, aber dafür ist doch auch hinterher noch Zeit, oder?
Im Folgenden beschränke ich mich auf Workshops und Erfahrungen, die mich besonders berührt und beeindruckt haben. Die Auswahl ist selbstverständlich rein subjektiv und es macht gerade den besonderen Charakter der xplore aus, dass unterschiedlichste individuelle Anliegen und Bedürfnisse, Sehnsüchte und Gelüste, erforscht und erlebt werden können.

Mein erstes Highlight ist der Workshop mit der queeren Bewegungskünstlerin und Performerin Christina Marlen, eine Verbindung von Kontaktimprovisation mit den Themen Dominanz und Unterwerfung unter Zuhilfenahme von Seilen und einfachsten Bondage-Techniken. Hier erfahre ich deutlich, dass und wie echte Dominanz vom Herzen ausgeht und auf diese Weise fast unwiderstehlich zur Hingabe einlädt. Die Seile, die die Bewegung einschränken, werden über die Arme zu einer haltgebenden Verlängerung des Herzens. Wunderschön. Davon möchte ich mehr.
Weitere Höhepunkte sind für mich die beiden Workshops mit John Hawken. Beim ersten geht es um „Individuation durch unartig Sein“. Mit fesselnder Klarheit, gepaart mit trockenem Humor, wird uns kurz die tiefenpsychologische Theorie nahegebracht und dann per Live-Demonstration eine Übungsanleitung gegeben. Jeweils ein Partner (Kind) legt sich beim anderen (Elternteil) übers Knie, streckt den Hintern in die Höhe und dann … wird zunächst das Kreuzbein einfühlsam und Sicherheit gewährend einfach nur gehalten. Erst später – nach einem kurzen verbalen Austausch – kann das Kind, wenn es sich sicher genug fühlt, die „orale Phase“ verlassen und ein wenig „unartig“ werden und den Hintern provozierend anheben und bewegen. Der Erwachsene ist gehalten, diese „Provokationen“ nicht zu forcieren, sondern abzuwarten und sie erst dann, wenn sie vom Kind ausgehen, wohlwollend aufzunehmen und spielerisch mit „Konsequenzen“ zu spielen. Schon bald erfüllt lautes Klatschen auf nackte Pobacken gepaart von lustvollem Ächzen und befreiendem Gelächter den Raum. Wer nicht dabei war, wird dieses Szenario vielleicht missverstehen, aber das gilt wohl für jede Beschreibung allen Geschehens auf der xplore. Damit muss ich leben. Mir wird jedenfalls eindrücklich klar, wie verletzt viele von uns sind, weil die spielerische Erforschung unseres Eigensinns in früher Kindheit entweder ignoriert oder unterdrückt wurde.
Bei zweiten Termin mit John Hawken kommen wir – Überraschung für die vielen Paare! – zu dritt zusammen. Eine Person steht nackt in der Mitte, bewegt die Wirbelsäule aus dem Becken heraus wellenförmig aufwärts, schaut dem zweiten vor sich in die Augen und wird von einer dritten Person in abgestimmter, passender Dosierung mit einem Flogger auf den Hintern geschlagen. Manche geraten schnell in eine Art Ekstase, insofern es nämlich gelingt, durch die Hiebe die Energie im Becken zu mobilisieren und zum Aufsteigen zu bringen. Damit das gelingen kann, wurden vorher gängige Abwehrmanöver kurz angetestet: Die eine nennt John „totes Fleisch“ und bedeutet, sich totzustellen und nichts anmerken zu lassen. Das andere Manöver geht gegen die Bewegungsrichtung der Peitsche und mobilisiert zwar auch Energie, aber eben als Widerstand und nicht zugunsten der Hingabe. Ich finde, John ist ein Meister darin, in der – für alle Workshops gültigen – Zeitbegrenzung von 90 Minuten eine tiefe, heilsame, integrierte und zugleich bewusstseinserweiternde Erfahrung zu ermöglichen.

Beim Workshop „Microsexes“ geht es darum, sich inmitten der wohl mehr als hundert Menschen über das Parkett des Börsensaals zu bewegen – aufrecht, sitzend oder am Boden – und dabei nicht den üblichen Bewegungsschemata zu folgen, sondern in die unwillkürlichen kleinen Bewegungsimpulse hinein zu lauschen. Von ihnen sollen wir uns in die Spontaneität unvertrauter, uncodierter Kontaktbegegnungen mit uns selbst, dem Raum und anderen hineinführen lassen. Jaime del Val gibt sich alle Mühe, uns mithilfe spaciger Ansagen und akustischer Rückkopplung in einen tranceartigen Raum zu führen, was meiner Beobachtung nach nur halb gelingt, vielleicht so auch nur halb gelingen kann. So faszinierend die Entdeckung gänzlich neuartiger Bewegungs- und Begegnungsformen sein kann, so sehr meldet sich irgendwann mit Macht die Sehnsucht nach Vertrautem, weil wir uns in einer Berührung auch verstanden fühlen wollen. Derartige Impulse werden hier meiner Beobachtung nach in die Unbewusstheit abgedrängt. Als Symptomträger dafür erscheinen mir diejenigen, die unbehelligt und zielstrebig ihre Kontaktfavoriten ansteuern, um dort wieder ganz unschuldig und „microsexuell“ anzudocken … Schade, denn die Integration von neu und vertraut wäre für mich vielversprechender als eine forcierte Überwindung von Bekanntem, was dessen Wiederkehr als Schatten anscheinend befördert.

Mit dem Besuch von Mistress Arcanas Tease-Workshop begebe ich mich in die Höhle einer Löwin, einer sexy gestylten Domina, absolutes Neuland für mich. Die Eintrittskarte in die Welt des BDSM heißt „Consent“ (Einverständnis), daran lässt Arcana keinen Zweifel. Nach einer kurzen Einführung in die Bedeutung aller Bestandteile von BDSM – und dies bereits auf spielerisch-provokant-dominante Art – gibt sie eine Demo in Grundformen von Dominanz und Unterwerfung, ganz ohne Hilfsmittel, mit verbalem Bondage, Demütigung, Atemrestriktion oder Sinnes- bzw. Aufmerksamkeitsentzug. Ihre Vorliebe ist das Teasing, das Spiel mit der vorenthaltenen Erfüllung. In einem weiteren Teil darf wer will mit Orgasmuskontrolle experimentieren, dem sogenannten „edging“, bei dem man sich selbst oder einen Partner bis kurz davor stimuliert, um dann den Höhepunkt zu verweigern. Dass manche dies in 15 Minuten hinbekommen … Respekt! Manchmal gerät dies eher zu Karikatur, was aber durchaus zu einer spielerischen Sexualkultur beitragen kann. Mir hat auch das grandiose Scheitern Spaß gemacht, überhaupt nur in die Nähe der edge zu kommen …

Besonders gespannt bin ich auf den Workshop „May I cross this line?“ In der Ankündigung wird ein Zusammenhang zwischen sexueller Praxis und Migrationspolitik hergestellt, in beiden Gebieten geht es bekanntlich um den Umgang mit Grenzen und Grenzüberschreitung, „als Körper in Migration zwischen ICH und WIR“ und „in Vielfalt vereint“. Ich frage mich: Ist das die Verheißung einer sexokulturellen Utopie oder die soziopolitische Legitimation für eine Orgie? Und … was macht das überhaupt für einen Unterschied? Die Spannung steigt, als sich die InteressentInnen dicht gedrängt im Vorraum der „Werkstatt“ versammeln, die Tür ist noch verschlossen, öffnet sich, dunkle Gestalten huschen hinein und hinaus, wir warten weiter geduldig – oder ungeduldig – auf Einlass. Dann endlich ist es soweit, in einem Gedrängel wie in der U-Bahn zu Stoßzeiten schieben wir uns langsam zur Tür, dort wird uns nochmal der Leitsatz „May I cross this line? und vor allem das Notbremse-Codewort „pink elephant“ ins Ohr geflüstert. Aha! Endlich drin, lassen wir uns an einem Platz im Fabrikraum nieder, der Betonboden ist weitgehend von kleinen Teppichen und Yogamatten bedeckt. Mit trancigen Klängen und einer ebensolchen Stimme werden wir eingeladen, uns soweit wie wir wollen auszuziehen, uns dann zunächst auf den eigenen Körper zu besinnen und uns um Erlaubnis für Selbst-Berührung zu fragen, ständig untermalt von der suggestiven Frage „May I cross this line, may I cross this line?“
Wenig später darf jeder seinen Platz verlassen und es beginnt ein unüberschaubares Geschehen, das manche erstaunlich schnell in explizite sexuelle Interaktion führt, andere in zarte Annäherungsversuche, wieder andere in ratloses Umherschauen auf der Suche nach Möglichkeiten des Andockens. Im Laufe der nächsten knappen Stunde fühlen sich wohl etwa die Hälfte der Anwesenden veranlasst, ihre Sachen zu packen und den Raum zu verlassen, doch ich selbst komme gar nicht auf die Idee, mich hier ernsthaft überfordern zu können. Zum Glück bin ich nicht allein, fühle mich wohl in dem Kontakt und weiß, dass ich nichts tun muss, genieße den sanft erotischen Körperkontakt. Rundherum genießen diverse Paare und Kleingruppen still ihre körperlichen Grenzüberschreitungen oder stöhnen sie lustvoll hinaus, als eine der Leiterinnen herumgeht und diesmal keine Kondome verteilt, sondern darum bittet, langsam zum Ende zu kommen. Was? jetzt schon?
Da erfasst mich wie aus dem Nichts eine heftige Stauballergieattacke, ich muss subito den Raum verlassen, mein Immunsystem hat andere Vorstellungen von Migrationspolitik als meine Neugier, mein bewusstes Wollen und Begehren. Erst spät in der Nacht beruhigt sich meine Allergie und ich bin froh, das Festival nicht schon abbrechen zu müssen. Am Morgen komme ich wieder, aber nun weiß ich: Ich muss viel besser auf mich aufpassen und ich kann die Integration der vielfältigen Eindrücke und Erlebnisse nicht immer auf später verschieben, ich brauche zeitnah Pausen und Austausch, um Erlebtem Raum zu geben und es zu verdauen. Ich bin extrem froh über die Vertrautheit innerhalb unserer kleinen Gruppe, in der wir uns immer wieder gegenseitig auffangen, denn die emotionale Achterbahn geht weiter.

Weitere Stationen wie „Reiki für die Genitalien“, „Schräges Aufwachen“ oder „Atmung durch Bewegung“ berühren mich auf jeweils unterschiedliche Weise, wir nehmen uns jedoch mehr und mehr Raum, verlassen die Einführung in „Animalization“ vorzeitig und begeben uns in einen der „play-spaces“, vorzugsweise um zu entspannen, zu kuscheln, aber auch verwegen erotisch-sexuell zu spielen … Die Selbstverständlichkeit, mit der hier meditative Bondage-Sessions, langsamer bis dynamischer Sex, sinnliche Massagen, Abspritzen mit dem Gartenschlauch, fröhliches Plaudern und einfaches Abhängen nebeneinanderher gelebt werden, ist für Außenstehende wohl kaum vorstellbar, doch bei mir löst dies pure Glücksgefühle aus: Wir alle dürfen sein, wie wir sind, und dazu gehört eben auch … unartig sein. Als ich unter die heiß begehrte Gartenschlauchdusche will, ist der Preis dafür ein überraschendes, kurzes, spielerisches Spanking auf meinen blanken Arsch. Wow. Cool. Frech. Niemals zuvor haben mir Schläge auf den Hintern soviel Vertrauen ins Leben beschert.

Das Festival neigt sich dem Ende entgegen, ich will noch den Guru-Supermarkt besuchen, werde aber nicht eingelassen, denn mein wohl zu offenherzig vorgetragenes Motiv „Neugier“ scheint der strengen Lady an der Pforte nicht ausreichend, um mich für die höheren Weihen dieser heiligen Halle für würdig zu befinden. Auch gut. Nur kann ich nun leider nicht darüber berichten.
Zum Abschluss und als Höhepunkt angekündigt steigt ab 22 Uhr die Playparty „The Aristocracy of Desire“. Hier sind erstmals Dresscodes vorgegeben. In der Umbaupause gehen wir auswärts essen, werfen uns im Hotel in unser darkes Outfit und sind pünktlich zurück zu einer Party, die en detail zu beschreiben ich nun wirklich unterlassen möchte. Man könnte das Geschehen je nach Standpunkt genauso gut als Garten Eden wie als Sodom und Gomorrha betrachten. Wildes, zügelloses Geschehen, liebliche Zärtlichkeit, strenge Dominanz, meditative Hingabe, alles umgeben von gelassener Stehpartyatmosphäre in einer Fabrikhalle voller Haken und Ösen zum Anbinden und manchen Podesten zum Aufsteigen … für manche die Erfüllung ihrer Träume, für andere vielleicht eine Überforderung oder gar Einladung zur inneren Desintegration. Auffallend viele sind zu dieser Party gar nicht mehr erschienen, manche wohl wissend, was sie verpassen. Eine wildere und zugleich friedlichere Vereinigung – oder zumindest Koexistenz – von Polaritäten habe ich allerdings kaum je erlebt.

Mit dem Abstand einiger Tage legt sich langsam mein innerer Tumult, den dieses Festival der lustvollen Crazyness bei mir ausgelöst hat, nicht zuletzt auch aufgrund persönlicher, emotionaler und beziehungsmäßiger Themen, die nur darauf gewartet hatten, sich an die Oberfläche zu wagen, und die ich hier nicht weiter ausbreiten werde. Für meine Prozesse bin ich sehr dankbar; doch wer glaubt, mit seinen Prozessen auf der xplore jederzeit aufgefangen zu werden, kann jäh abstürzen. Wer sich zutraut, gut für sich zu sorgen, auf seine Grenzen zu achten oder deren vielfältig mögliche Überschreitung zu genießen, zu zelebrieren oder zumindest ohne allzu große Retraumatisierung zu verarbeiten – oder sich sein vertrautes Beziehungsnetz gleich mitbringt – bekommt mit der xplore eine schier unglaublich dichte Anregung, das eigene Sein und Wirken in der Welt vollkommen neu zu beleuchten, mit allen Erschütterungen, die zu vertiefter Selbsterfahrung dazu gehören. Denn Ich, Du und Wir, sind wir nicht in Wahrheit eins?